10. Oktober 2020
Ich habe etwas weniger geschrieben und mehr mit Menschen gesprochen. Ich will ja auch nicht nur in meinem eigenen Saft schmoren.
Natürlich denke ich auch immer wieder über meine eigene Erfahrung mit unserem Gesundheitswesen und meine emotionalen Reaktionen darauf nach.
Die Erfahrung von ganz unten in der strikten Hierarchie der Klinik wird mich für immer begleiten. Das Gefühl, nichts zu sein. Nicht für alle. Es gibt auch eine starke Bewegung dagegen. Es gibt Ärzte, die ganz offen gerade nicht als etwas Besseres behandelt werden wollen. Das äußerte sich in dem Bestreben, gerade nicht mit dem Doktortitel angesprochen zu werden. Dann, als die neuen Uniformen eingeführt wurden, wurden die unterschiedlichen Werte ganz deutlich sichtbar: Es gab Ärzte, die sich für das Türkis der Pflege entschieden und damit ganz deutlich machten, dass sie nicht “etwas Besseres” sein wollten. Eine Veränderung für sie. Es muss also ein Nachdenken und ein aktives Gespräch über diese Entscheidung gegeben haben.
Diese unterschiedlichen Haltungen habe ich zu spüren bekommen, bevor ich sie so deutlich gesehen habe (und als ich sie gesehen habe, war ich nicht mehr in der Verfassung, sie zu verstehen.) Ich kann aber detailliert beschreiben, auf welche Weise jede der verschiedenen Einstellungen meine Arbeit dort beeinflusst haben. Die Menschen, die mich aus der Sichtweise einer strikten Hierarchie behandelt haben, haben meine Bedürfnisse ignoriert. Es war egal, wer ich war oder was ich da gemacht habe. Mir wurde nicht zugehört. Jede Kommunikation von meiner Seite konnte nur eine Störung sein.
Mit mir wurde einfach nicht gesprochen.
Menschen, die mich als gleichwertig gesehen haben, sind mir ganz anders begegnet und haben auch versucht, zu helfen, sind aber gegen die übermächtige Organisation chancenlos.
Alles, was ich jetzt mache, ist eine Art Aufarbeitung meiner Zeit in der Klinik. Ich habe jetzt die unterschiedlichen Wertesysteme ganz persönlich und auf eine sehr grundlegende Art und Weise erlebt und habe also ein verändertes Interesse daran. Ich habe aber schon vorher in einer Kultur gearbeitet, die sich sehr über Werte bewusst war.
Im innovativen öffentlichen Dienst werden die Werte, auf deren Grundlage man arbeitet, zentral angekündigt. Zum Beispiel NHSX, GDS, Australien,

Wir sehen bei all diesen Ansätzen, dass Menschen, die diese Dienste nutzen, im Mittelpunkt stehen.
Im deutschen Gesundheitswesen gibt es kleine Ansätze, über Werte zu sprechen. Das hier von 2010. Und auch in zentralen Projekten, wie der Einführung der Telematikinfrastruktur, sind diese Werte, die ich aus der innovativen Kultur im öffentlichen Dienst kenne, nicht prominent – meine eigenen Ärzte wissen jetzt, dass ich “etwas mit Computern mache”, und so höre ich bei jedem Besuch, wie sie diesen Innovationspozess erleben. Nutzer sind da absolut nicht zentral. Mein Frauenarzt denkt ans Aufhören. Mein Radiologe hat schon aufgehört.
In einer Hierarchie sind Bedürfnisse von Menschen nur wichtig, wenn sie Macht haben, und Menschen werden wertloser, je weniger Macht sie haben. Jede Interaktion ist von diesem Wertesystem beeinflusst – was sagt man zueinander? Welche Ziele verfolgt man? Wie behandelt man Konflikte, Stress, Probleme? Das Ergebnis all dieser Entscheidungen ist eine Kultur.
Es ist allgemein bekannt, dass eine hierarchische Organisation nicht innovativ sein kann. Man versucht, Probleme zu lösen, indem man in der Hierarchie aufsteigt. Jeder, der in solch einem Wertesystem arbeitet, involviert sich darin. Man schluckt seine Schmerzen herunter, weil es ja normal ist, zu leiden. Man ist schließlich ganz unten. Man hinterfragt nicht mehr, man erwartet nichts. Man verspricht sich, dass man andere nie so behandeln wird. Dann, wenn man aufsteigt, macht man es genauso.
So sind alle hierarchischen Organisationen.
Dass es in solch einer Organisation trotzdem Menschen gibt, die sich so offen dagegen gestellt haben, hat mich immer mehr verwundert, je mehr ich beobachtet habe.
Eine hierarchische Organisation innovativ zu machen, heißt, über ganz grundlegende Dinge zu reden. Werte zu leben, Veränderung ganz offen zu machen. Deshalb ist zum Beispiel ein Blog, den eine Führungskraft schreibt, so ein wichtiger Teil eines solchen Prozesses (der “digitalen Transformation.”) Diese Veränderungen machen etwas mit uns. Kultur verändert sich nicht, ohne dass wir uns alle hinterfragen, etwas in uns selbst verändern. Das ist kein leichter Vorgang und passiert nicht so einfach. Wir sind einander mehr Rechenschaft schuldig, je mehr Macht wir haben.
Offenheit ist Teil der Transformation. Offenheit zeigt, dass wir etwas verstanden haben. Offenheit darüber, sich das nicht leicht zu machen, schafft Vertrauen, dass dieser Prozess echt ist, und schafft dann auch eine echte Veränderung auf allen Ebenen der Organisation. Solange sich eine Organisation versteckt, habe ich kein Vertrauen, dass sie dieses schwierige Thema wirklich angeht.
Innovativer zu werden ist kein automatischer Vorgang. Ich bin nicht “meiner Zeit voraus”, wie mir eine Freundin neulich gesagt hat. Sogar eine Verjüngung wird nicht automatisch eine Veränderung bedeuten. Die Stationsleitung auf unserer Station ist sehr jung. Einige Ärzte waren sehr jung. Keiner von ihnen hat das Gespräch gesucht, keinen hat meine Arbeit und meine Bedürfnisse interessiert.
Man kann sich auch weiterhin gegen diesen Prozess stemmen. Das Ergebnis wird dann sein, dass Menschen dort weniger arbeiten wollen, je idealistischer sie sind. Dass Anbieter nicht mit der Organisation arbeiten wollen (wir fahren lieber nach Greifswald. Originalton von dieser Woche. Und das war ein Rostocker IT-Unternehmen.) Burnout, schwierige Zusammenarbeit, schlechte Kommunikation, gute Ideen funktionieren nicht, weil man im Klinikalltag einfach keine Zeit dafür hat (Originalton, als AYA nach fast zwei Jahren endlich Erwähnung fand.) Milliarden in “digitale Transformation” investiert, die absolut nichts zum Besseren verändern.
Denn “besser” geht nicht mit IT-Anbietern, die Profit machen wollen und Kunden, die kein starkes Wertesystem dagegen halten. Man kann von IT-Anbietern nicht erwarten, dass sie den Kunden bei diesem Kulturwandel helfen – IT-Anbieter stellen sich auf die Werte der Kunden ein, nicht umgekehrt.
Ich werde diesem Projekt weniger Priorität in meinem Leben geben. Es gibt schon ein anderes, an dem ich aktiv (sogar mit einer Kundin) arbeite. Was ich aber weiterhin machen werde, ist zu versuchen, mit den guten Menschen in der Klinik Kontakt zu halten.
Denn sie sind wichtig. Ich zweifle daran, dass sie wissen, wie wichtig sie sind. Nicht nur, aber auch, für mich.